!KRITIK!

Mail von Frau Prof. Osterloh-Konrad (Dekanin der Juristische Fakultät an der Eberhard Karls Universität Tübingen) vom 15/11/24:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Studentinnen und Studenten,

viele von Ihnen werden mitbekommen haben, dass eine unbekannte Person am vergangenen Wochenende den Namen eines Studenten unserer Fakultät an die Fassade der Neuen Aula gesprüht und hierbei den folgenden Satz hinzugefügt hat: „Hier studiert ein Nazi“. In unmittelbarer Nähe der Neuen Aula kursierten zudem Flugblätter mit Bild und Namen des Betroffenen.

Aus diesem Anlass möchte ich unabhängig von der strafrechtlichen Einordnung in meiner Eigenschaft als Dekanin dieser Fakultät folgende Worte an Sie richten.

Universitäten sind traditionell Orte der Freiheit: der Freiheit von Forschung und Lehre, aber auch der Meinungsfreiheit und der offenen Debatte darüber, unter welchen Bedingungen wir in unserem Staat miteinander leben möchten. Dass unsere Universität ein solcher Ort der Freiheit bleibt, sollte uns allen ein wichtiges Anliegen sein. In der Geschichte ist es immer wieder vorgekommen, dass Einzelne wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit öffentlich ausgegrenzt, an den Pranger gestellt oder sogar verfolgt wurden – wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Weltanschauung oder aus anderen Gründen. Ein Gemeinwesen, dessen Verfassungsordnung mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ beginnt, muss sich in besonderem Maße dem Schutz des Einzelnen vor derlei Mechanismen verpflichtet sehen. Die Grundrechte als Instrumente des Minderheitenschutzes entfalten gerade dann ihre volle Kraft, wenn die jeweilige Minderheit von der Mehrheit vehement abgelehnt wird. Durch die Grundrechte und eine Vielzahl rechtsstaatlicher Garantien errichtet das Recht einen Schutzwall um den Einzelnen und ein Bollwerk gegen die Diktatur (auch) der Mehrheit. Wie die jüngere Vergangenheit unseres Landes gezeigt hat, ist dieses Bollwerk aber nur dann standfest, wenn es auch von der Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger getragen wird. Weimar ist nicht primär an „schlechtem Recht“, sondern an Menschen gescheitert. Den programmatischen Satz in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG kann das Recht selbst ohne die Mithilfe seiner Subjekte nicht garantieren. Die Würde des Menschen bleibt nur dann unantastbar, wenn jeder Einzelne in seinem Gegenüber immer auch den Menschen erkennt und dessen Gleichwertigkeit achtet – unabhängig davon, ob dieses Gegenüber anders aussieht oder andere politische Auffassungen vertritt als er selbst. Diese Achtung sollte nicht nur unser Grundgesetz inspirieren, sondern auch unseren persönlichen Umgang miteinander. In der Sache hart zu streiten, ist gerade im universitären Umfeld, in dem um Wahrheit und Erkenntnis gerungen wird, gute Tradition. Doch im Umgang mit der Person gilt es dabei stets, diejenige Grenze zu achten, welche die Anerkennung des Mensch-Seins im Anderen gebietet. Deswegen wird z.B. der Meinungsfreiheit durch den Straftatbestand der Beleidigung eine Grenze gezogen. 

Mit diesen Prinzipien ist die öffentliche Diffamierung eines Individuums an einer Hausfassade oder durch Flugblätter nicht vereinbar.

Es grüßt Sie alle herzlich Prof. Dr. Christine Osterloh-Konrad

Das Statement von Frau Prof. Osterloh-Konrad vom 15. November verlangt eine kritische Würdigung, um der durchaus komplexen Gemengelage hinreichend Rechnung zu tragen:

Im Statement werden wohlklingende Reden von Freiheit und Würde geschwungen, die auf diesem Abstraktionsgrad nichts zum Sachverhalt beitragen können und wollen. Die materiellen Zustände on thegroundwerden wohlweislich ausgeklammert. So gelingt keine Differenzierung. So macht man sich der Ignoranz schuldig.

Was meinen wir konkret? Mit dem Graffito und den Flugblättern wurde Aufmerksamkeit geschaffen für eine Tatsache, die von allgemeiner Tragweite ist:
Ein führendes Mitglied der JA (Jugendverband der AfD), welche als rechtsextrem eingestuft wurde,1 studiert an der Juristischen Fakultät in Tübingen und eignet sich damit „Herrschaftswissen“ an. Aufgrund dieserZugehörigkeit kann und muss der Student auch in dieser politischen Eigenschaft wahrgenommen werden, nicht nur als „normaler“ Studierender, wie es die Dekanin suggeriert.
Die JA vertritt Positionen sogar noch rechts der AfD,2 heißt menschenverachtende und diskriminierende Positionen.3 Die Verfassung wird allenfalls dem äußeren Anschein nach respektiert, in der Sache aber mit Füßen getreten.
Eine solche Person erwirbt nun also die Befähigung zum Richteramt, kann später einmal potentiell in einer Rechtsstreitigkeit über uns zu Gericht sitzen und richten. Das Recht, und hier hat Frau Osterloh-Konrad ungewollt Recht, schützt uns in dieser Situation nicht.4 
Denn das Recht bedarf der konkretisierenden Auslegung. Und wie dies im Sinne des Unrechts geschehen kann, haben die Nazis und fast der gesamte Justizapparat ab 1933 methodisch sehr eindrucksvoll bewiesen, nachzulesen etwa in Rüthers Werk zur Unbegrenzten Auslegung.5 Es ist also im Interesse aller zu wissen, dass eine Person mit derartigem Hintergrund hier staatlich ausgebildet wird. Neben der Befähigung zum Richteramt wird Wissen über die Struktur des demokratischen Staates an dieser Fakultät vermittelt. Wissen, welches bereits in Ungarn und Polen von findigen Jurist:innen zur Aushöhlung des Rechtsstaates verwendet wurde.6 Wir können doch nicht einerseits das Bundesverfassungsgericht stärken wollen7 und andererseits ignorieren, wer dort potentiell sitzen könnte.
Die Aktionen des outcallings verfolgten damit bei wohlwollender Auslegung aufklärerische Ziele, die uns allen wichtig sein sollten.
Erst durch diese Aktionen sprechen wir nun überhaupt in den Fluren dieser Fakultät darüber, wie wir damit umgehen können, und schweigen es nicht tot oder nehmen es erst gar nicht zur Kenntnis.8 
Diese Dimension der Aktion nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist gefährliche Ignoranz und Ausdruck eines falsch verstandenen liberalen Ideals von Objektivität und Neutralität.9 
Das können wir uns nicht mehr leisten. 

Und auch das Recht leistet sich diese Neutralität nicht, es sei nur an das Stichwort der wehrhaften Demokratie erinnert. Diese beginnt überhaupt erst einmal mit Aufklärung, um überhaupt eine Debatte in Gang zu treten.10 Deren Grenzen sind freilich schwierig zu ziehen, die Demokratie darf nicht im Namen der Freiheit in Despotie umschlagen.
Aber überhaupt von diesen schwierigen Spannungslagen zu schweigen ist in dieser Situation nicht ehrlich und inhaltlich falsch. 
Frau Osterloh-Konrad duckt sich hier weg vor einer mutigen Selbstreflexion zu den relevanten Fragen dieser Fakultät: Was wollen wir überhaupt vermitteln? Wen bilden wir aus?11 Warum ist dies relevant? Warum kann uns das Recht final als „Bollwerk“, wie 1933 gezeigt (und von Böckenförde abgewandelt bestätigt) nicht schützen? Schließlich müssten diese Überlegungen dazu führen, die juristische Ausbildung auf kritische Inhalte hin zu untersuchen. Gibt es eine Vorlesung zum nationalsozialistischen Unrecht?12 Nein. Wie kann das sein?13 
Gibt es eine Vorlesung zur Rechtstheorie, die darüber aufklärt und warnt, wie mit rechtlichen Mitteln und der entsprechenden Methode Unrecht in Recht verkleidet werden kann?14 Nein. Wie kann das sein? 

Diese Missstände anzugehen, könnte doch ein produktives Ergebnis dieser Aktion sein. Stattdessen zeigt sich eine konsequente Schonhaltung gegenüber unliebsamen Themen. Nicht der erste Fall dieser Art in diesem Jahr innerhalb des juristischen Professoriums.15 
Zu einer wehrhaften Demokratie gehört auch Standhaftigkeit und Haltung. Wie Frau Osterloh-Konrad richtig festgestellt hat: „Weimar ist nicht primär an „schlechtem Recht“, sondern an Menschen gescheitert.“ Ganz richtig. Nämlich an rechtsextremen Nazis und einer schweigenden Mehrheit, die den Nazis gegenüber im Namen der „Freiheit“ (Was ist das eigentlich genau? Und wo liegen die Grenzen? Das sind doch die drängenden Fragen, die aufgeworfen wurden. Als Inhaberin des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie hätte Frau Osterloh-Konrad den Diskurs hier sicher bereichern können, wenn Sie denn nur gewollt hätte. Stattdessen ist sie über die Rolle der Zivilrechtlerin nicht hinausgekommen und hat damit den Diskurs entsprechend entreichert.) Toleranz walten ließen und sich selbst als „Neutrale“ heraushalten wollten.16 
Nun gut. Das letzte Wort überlassen wir dem Unterstützerkreis des als „Nazi“ gebrandmarkten Kommillitonen: In einem Bild, das die Gruppe Anfang letzter Woche auf dem JA-Account gepostet hat, teilen sie auf einem Banner ihre weiteren Ziele mit: „Die Uni wird rechts.“ Dann mal Daumen drücken, dass es dieses Mal nicht ganz so schlimm wird wie letztes Mal. Damals wurde die Universität ja ganz schnell ganz rechts.17

  1. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/junge-alternative-verfassungsschutz-102.html. ↩︎
  2. Siehe etwa die Zusammenstellung bei: https://www.deutschlandfunk.de/junge-alternative-rechtsextrem-afd-100.html. ↩︎
  3. Siehe für die AfD nur die Analyse des Deutschen Instituts für Menschenrechte mit dem Titel „Warum die AfD verboten werden könnte“ (abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Analyse_Studie/Analyse_Warum_die_AfD_verboten_werden_koennte.pdf. ↩︎
  4. Es sollte an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, gerade auch angesichts der pathetischen Ausführungen von Frau Osterloh-Konrad, dass das Recht heute auch dazu verwendet wird, um Menschen zu erniedrigen und deren Würde mit Füßen zu treten. Erinnert sei nur an das unwürdige (!) Feilschen um jeden Cent und Sanktionsmöglichkeiten beim Existenzminimum. Daneben suchen findige liberal-konservative Rechtswissenschaftler:innen Möglichkeiten, ggf. unter Erwägung einer Verfassungsänderung, gewissen Gruppen von Geflüchteten nur noch „Bett, Brot, Seife“ zu gewähren. ↩︎
  5. Inzwischen sogar in der 9. Auflage (!) erschienen: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 2022. ↩︎
  6. Zu einem möglichen Szenario in Deutschland siehe Max Steinbeis‘ Szenario vom „Volkskanzler“ auf dem Verfassungsblog: https://verfassungsblog.de/ein-volkskanzler/; ergänzend zu den beunruhigenden Vorgängen in Österreich Ehs, Austrofaschismus als Drehbuch: Wie die FPÖ nach der Macht greift, Blätter 03/2024, S. 81-86. ↩︎
  7. Siehe dazu die aktuelle Publikation von Max Steinbeis (Die verwundbare Demokratie: Strategien gegen die populistische Übernahme, Hanser 2024), der mit den entsprechenden Vorüberlegungen die Debatten zum Schutz des BVerfG angestoßen hat. ↩︎
  8. In etwas überspitztem Sinne ist hier also die „Wilde Demokratie“ zu beobachten, die Tim Wihl essayistisch verarbeitet hat in: Wihl, Wilde Demokratie: Das Recht auf Protest, Wagenbach 2024. Der Autor wird dazu vortragen am 03. Dezember und anschließend zur Diskussion bereitstehen (Kupferbau HS23, 18h c.t.). ↩︎
  9. Ungebrochen lesenswert dazu ist Marcuses Kritik der reinen Toleranz, edition suhrkamp 181. ↩︎
  10. Gestritten werden kann selbstverständlich über die Form, allerdings wäre zu prüfen, ob das Graffito und die Flugblätter in dieser Hinsicht tatsächlich nicht grundrechtlich geschützt sind. Auch im Falle der Illegalität müsste trotzdem noch um eine moralische Bewertung gerungen werden (Stichwort: Recht ist nicht gerecht). Dieses Differenzierungsvermögen erreicht das Statement der Dekanin nicht im Ansatz. ↩︎
  11.  Siehe zur juristischen Subjektwerdung Böning KJ 2024, 176-187 oder ausführlicher „Jura studieren. Eine explorative Untersuchung im Anschluss an Pierre Bourdieu“, Beltz/Juventa, 2017, Basel ↩︎
  12. Der reformierte § 5a Deutsches Richtergesetz möge hierzu zusätzlichen Anlass bieten. ↩︎
  13. Diese Missstände sind bundesweit zu beobachten, weshalb sich außeruniversitär ein Arbeitskreis gebildet hat, der einen spannenden Reader zusammengestellt hat, welcher kostenlos bezogen werden kann: https://www.readerunrechtmitrecht.de/. ↩︎
  14. Abermals sei auf Rüthers verwiesen. Die Rechtstheoretiker der Nazis bleiben auch danach mit ihrem Werk zur Methodenlehre einflussreich, siehe Canaris/Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Springer 1995. ↩︎
  15. Siehe dazu unser Statement vom 28. April 2024 https://akj-tuebingen.de/folgestatement-zu-falsch-verbunden/. ↩︎
  16. Adorno drückt dieses Gefühl im Aphorismus Herr Doktor, das ist schön von euch, treffend aus, siehe seine Minima Moralia, S. 26f. ↩︎
  17. https://uni-tuebingen.de/universitaet/profil/geschichte-der-universitaet/aufarbeitung-ns-zeit/ oder ausführlich: Langewiesche: Die Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus: Formen der Selbstgleichschaltung und Selbstbehauptung, in: Geschichte und Gesellschaft – Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 1997, S. 618-646.
    ↩︎

Bild: Rescan, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0