Eugen Paschukanis’ Rechtsformtheorie jenseits von Instrumentalismus und Normativismus
Im Gegensatz zu feudalen Aneignungsprozessen liegt die Eigenart kapitalistischer Ausbeutung darin, dass sie vertragsrechtlich vermittelt ist: Das ökonomische Verhältnis zweier Warenbesitzer – auf der einen Seite der Kapitalist als Eigentümer von Produktionsmitteln, auf der anderen Seite der Lohnarbeiter als Eigentümer seiner Arbeitskraft – impliziert in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften ein entsprechendes Willensverhältnis, in dem sich die beiden Parteien aus freiem Willen darauf einigen, eine Ware gegen die andere zu tauschen. Die Rechtsform ist daher, so die prominente und notorisch missverstandene Pointe des sowjetischen Rechtstheoretikers Eugen Paschukanis, der „unausbleibliche Reflex“ der Warenform.
Ist Recht also nur ein Schleier, hinter dem die ökonomische Substanz aller Rechtsverhältnisse verborgen ist? Ist Recht Ideologie? Diese Frage lässt sich für Paschukanis nur dann mit „Ja“ beantworten, wenn wir einen differenzierten Begriff von Ideologie zugrunde legen: Ideologie ist nicht einfach „falsches Bewusstsein“, das sich aus irrigen Annahmen oder bornierten Überzeugungen zusammensetzt. Ideologie ist falsch und wahr, Schein und Wirklichkeit zugleich, ja sie ist überhaupt dieses Zugleich beider entgegengesetzter Seiten. Damit ist auch die Rolle der Ideologiekritik bestimmt: Sie begreift in der Dialektik von Wirklichkeit und Schein den unmittelbaren Schein in seiner wirklichen Vermittlung.
Linda Lilith Obermayr (Wien)